OFFENER BRIEF an den Deutschen Evangelischen Kirchentag
Komplett als Download: Offener Brief an den Deutschen Evangelischen Kirchentag
Liebe Schwestern und Brüder in Christus
Ich sende euch allen herzliche Grüße aus Kapstadt.
Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist eine besondere Organisation, die einen speziellen Platz in meinem alten Herzen einnimmt. Er hat eine beispielhafte und prophetische Rolle gespielt, indem er das moderne Deutschland mit seiner kraftvollen Wirtschaft immer wieder freundlich angestoßen hat, seine Macht aktiv und mitfühlend für Gerechtigkeit einzusetzen.
Ich erinnere mich, wie Ihr in den 80er Jahren mit Euren Gewissen gerungen habt, „eine klare Haltung“ gegen Apartheid einzunehmen und schließlich eurem Impuls gefolgt seid, das Richtige zu tun, nämlich die Konten bei der Deutschen Bank wegen ihrer Geschäfte mit Südafrika zu kündigen. Dafür danke ich euch.
Ihr hattet verstanden, wie stark wir als Menschen durch unsere Familienbande – hier auf Erden Schwestern und Brüder in Gottes Familie – gegenseitig verbunden sind.
Heute sind viele von uns besorgt über den Konflikt im Heiligen Land, dessen Wurzeln zurückzuverfolgen sind bis zum Zweiten Weltkrieg, der zu einer nie zuvor gekannten globalen Unsicherheit beitrug.
Natürlich verurteilen wir diejenigen, die von Palästina aus Raketen auf zivile Ziele in Israel abfeuern, aber Israels militärischer Angriff auf Gaza im letzten Jahr war nicht nur auf grausame Weise unverhältnismäßig, sondern auch eine brutale Demonstration der Verachtung, die Israel gegenüber dem palästinensischen Volk an den Tag legt.
Überzeugungen, ideologische Orientierungen und Befürchtungen, von führenden Stimmen auf beiden Seiten geäußert – sowohl der israelischen wie der palästinensischen – sind so extrem, dass sie nicht dazu beitragen können, die Situation durch ein angemessen weites Prisma zu betrachten, um den Kreislauf von Gewalt und Hass beenden zu können. Es gab einfach zu viele Verletzungen.
Im Kairos Palästina-Dokument (Sektion 6 – Unser Wort an die Kirchen der Welt) werden die Kirchen gedrängt, „sich an die Seite der Unterdrückten zu stellen und das Wort Gottes als frohe Botschaft an alle zu bewahren, anstatt es in eine Waffe zu verwandeln, mit der die Unterdrückten getötet werden.“
Als Südafrikaner und als Deutsche wissen wir aus unserer eigenen Geschichte besser als die meisten anderen, welchen Schaden die Urheber von Ungerechtigkeit und Hass sich selbst zufügen. Diejenigen, die die Macht haben, unmenschliche Akte zu begehen, beschädigen zutiefst ihre eigene Menschlichkeit. Mit dieser ganz eigenen Erfahrung im Blick auf Menschenrechte und Gerechtigkeit – das ist meine Überzeugung – haben unsere Länder eine besondere Verantwortung, zu einem dauerhaften Frieden und zur Stabilität im Heiligen Land beizutragen. Sollten die Mitglieder einer Familie nicht so miteinander umgehen?
Als Christen haben wir die Pflicht, an der Seite der Unterdrückten, der Geknechteten, der Armen, der mit Vorurteilen Belasteten und ungerecht Behandelten zu stehen – IMMER. Neutralität darf keine Option sein, denn sie begünstigt immer die Unterdrücker. Immer.
Ergriff der Prophet Elia nicht Partei für Naboth gegen Ahab, den König Israels, als dieser sein Land stahl? Heißt es nicht in Psalm 99,4: „Dir, dem König gehört die Macht, und du kümmerst dich um das Recht. Du
hast die Regeln für unser Leben aufgestellt, in Israel Recht und Ordnung festgelegt.“
2007 veröffentlichte der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) den „Amman Call“. Wir müssen nicht den Text in seiner Gesamtheit wiederholen, es genügen einige Herausforderungen, mit denen der Aufruf schloss, nach Anhören der Stimmen aus den christlichen Kirchen in Palästina und Israel. Christen wurden aufgefordert: „Setzt euch mit uns dafür ein, alle Völker dieses Landes von der Logik des Hasses, der gegenseitigen Ablehnung und des Todes zu befreien, damit sie im anderen das Antlitz und die Würde Gottes erblicken können.“ - „Erhebt eure Stimmen mit uns, wenn wir die 'Macht mit der Wahrheit konfrontieren' und beherzt das Unrecht beim Namen nennen, das wir sehen und erfahren. Die rechtswidrige Besatzung hat zwei Generationen der an diesem gequälten Ort lebenden Menschen das Leben gestohlen und wird auf Dauer die nächste zu einem Leben in Hoffnungslosigkeit und Wut verurteilen.“
Der Zentralausschuss des ÖRK veröffentlichte im Juli letzten Jahres eine „Erklärung zu wirtschaftlichen Maßnahmen und christlicher Verantwortung gegenüber Israel und Palästina“, in der er feststellt: Es bedarf mutiger und kreativer Initiativen der Kirchen, „um bessere Anwälte der Gerechtigkeit zu werden im Blick auf wirtschaftliche Probleme, wie sie sich aus den andauernden Verletzungen internationalen Rechts in den besetzten Gebieten ergeben.“
In der Konferenzerklärung „Leben in Würde – Fünf Jahre Kairos Palästina“ (2014) heißt es: „Wir verpflichten uns, sowohl in unseren Kirchen wie auch in unseren Gesellschaften, den Kairos-Aufruf zu unterstützen, der die Forderungen der palästinensischen Zivilgesellschaft aufnimmt, Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen (BDS) als angemessene gewaltfreie Mittel kreativen Widerstands einzusetzen, bis die illegale israelische Besatzung überwunden ist.“ BDS hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Macht Geschäfte mit Juden, organisiert etwas mit ihnen, liebt sie. Aber unterstützt nicht die – militärische, wirtschaftliche oder politische – Maschinerie eines Apartheidstaates. Wir können keine normalen Geschäfte machen, denn die Bedingungen im Heiligen Land sind vollkommen anormal.
Bitte sagt eurer Regierung, dass besorgte Worte allein nicht genügen. Sie ändern überhaupt nichts. Die angemessene Antwort für die Bekämpfung der Ungerechtigkeit sind reale Schritte, um ihr zu begegnen und sie zu überwinden. Richard von Weizsäcker, ehemaliger deutscher Bundespräsident und Präsident des Kirchentages, schloss sich in einem Brief an die EU, der von vielen älteren Staatsmännern Europas unterschrieben wurde, diesen Forderungen an.
Hütet euch vor Antisemitismus und allen anderen Formen von Rassismus, aber hütet euch genauso davor, zum Schweigen gebracht zu werden von jenen, die euch wegen der Kritik an der unterdrückerischen Politik Israels als Antisemiten abstempeln wollen.
Ich bitte euch inständig, aufmerksam auf das zu hören, was im Kairos-Palästina-Papier gesagt wird. Unsere christlichen Schwestern und Brüder im Heiligen Land haben nichts von ausgewogenen Synodenerklärungen, die in gleicher Weise Sympathie mit dem Unterdrücker und den Unterdrückten zum Ausdruck bringen. Sie erwarten von uns alle erdenkliche Hilfe, ihre kollektive Freiheit zurückzugewinnen.
Bitte schließt euch der ökumenischen Kairos-Bewegung an und fordert öffentlich und solidarisch Freiheit für Palästina, damit auch Israel frei sein kann.
Danke und Gott segne Euch.
Herzliche Grüße
Erzbischof Emeritus Desmond Tutu, Kapstadt/ Südafrika
(deutsche Übersetzung: Dorothea und Gerhard Dilschneider)
Erzbischof Desmond Tutu hatte eine führende Rolle im langjährigen Kampf zur Überwindung des Apartheidsystems in Südafrika. Dafür wurde er 1984 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nach den ersten demokratischen Wahlen 1994 leitete er 1996 bis 1998 die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission. Immer wieder erhob er seine Stimme gegen die Vertreibung und Unterdrückung des Palästinensischen Volkes, gegen Apartheid, Landraub und Besatzung durch den Staat Israel.
Seinen OFFENEN BRIEF richtet Desmond Tutu über den Deutschen Evangelischen Kirchentag an alle Christinnen und Christen in Deutschland. Direkt zugesandt wurde er dem Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags (DEKT) Prof. Dr. Andreas Barnes, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm sowie dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) Bischof Dr. Karl Heinz Wiesemann.
Das englische Original und die deutsche Übersetzung des Offenen Briefes gibt es bei www.kairoseuropa.de als Download.